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David Cameron hat lange geschwiegen. Ausgerechnet der Mann, dem die Briten und die übrigen Europäer gewissermaßen das Schlamassel des Brexit zu verdanken haben.
Cameron, 52, war britischer Premierminister. Er wollte in die Geschichte eingehen. Das schaffte er auch. Allerdings ein wenig anders, als er sich das vorgestellt hatte. Nach seinem Wahlsieg 2015 gestand er den Briten ein Referendum über den Verbleib in der Europäischen Union zu. Er wollte damit vor allem die Euroskeptiker in seiner Tory-Partei ein für allemal ruhig stellen – mit einem klaren Votum für den EU-Verbleib.
Nun, Cameron zockte und verlor.
Am 23. Juni 2016 sagte eine knappe Mehrheit in Großbritannien „Ja“ zum Brexit. Einen Tag später trat Cameron zurück. Er ging in Klausur. Drei Jahre lang schrieb er in einer Art Luxus-Wohnwagen in seinem Garten an „For the Record“ („Fürs Protokoll“), seinen Memoiren, die eher eine Abrechnung auf 752 Seiten sein sollen. Das Buch soll am 19. September erscheinen, erste Auszüge sind bereits auf dem Markt. Der „Times“ gab Cameron am Freitag ein erstes Interview, kurz darauf veröffentlichte das Blatt ganze Kapitel im Vorabdruck. Ein Überblick.
David Cameron über das Referendum
Cameron weist in „For the Record“ offenbar jegliche direkte Schuld für das Brexit-Dilemma von sich. Laut „Süddeutscher Zeitung“ zeige er sich in seinen Memoiren enttäuscht, dass Parteifreunde gegen alle Vernunft und unter Beugung von Fakten eine Kampagne betrieben hätten, die sowohl das Ende seiner Regierung als auch das Ende der konservativen Tory-Partei zur Folge gehabt hätten, an die er einst geglaubt habe. Er, schreibt Cameron, habe nach den Regeln gespielt und sich geweigert, einzelne Mitglieder seines Kabinetts zu entlassen. Die Folge, so der Ex-Premier: Er habe irgendwann einem „Parallel-Kabinett“ aus Brexit-Befürwortern gegenübergestanden – und schließlich einer Gegenregierung.
Darüber hinaus verteidigt er seine Entscheidung, das Volk über die britische EU-Mitgliedschaft abstimmen zu lassen. „Die Frage musste geklärt werden, und ich dachte, das Referendum kommt (sowieso).“ Er habe unter politischem Druck gestanden. Doch er gesteht ein, wie die „Süddeutsche Zeitung“ zitiert: „Ich verstehe, dass einige Menschen sehr verärgert sind, weil sie die EU nicht verlassen wollten. Ich wollte es auch nicht.“
… über Boris Johnson
Cameron kritisiert den aktuellen Regierungschef Boris Johnson in einem Auszug seiner Memoiren, den die „Sunday Times“ veröffentlichte, als politischen Opportunisten und prinzipienlosen Populisten. Sein Parteikollege habe sich vor dem Brexit-Referendum 2016 aus rein egoistischen Motiven als Verfechter eines britischen EU-Austritts inszeniert. „Boris hat etwas unterstützt, an das er selbst nicht glaubte“, heißt es in dem Vorabdruck. „Er hat einen Ausgang (der Volksabstimmung) riskiert, an den er selbst nicht glaubte, um seine politische Karriere zu befördern.“ Johnson habe sich „widerwärtig verhalten, die eigene Regierung attackiert, das miese Vorgehen des eigenen Lagers ignoriert“ – und sei ein „Aushängeschild des Experten verleumdenden, wahrheitsverdrehenden Zeitalters des Populismus geworden“.
Die beiden Männer verbindet eine langjährige, von starker Konkurrenz geprägte Beziehung. Sie kennen sich bereits aus Schultagen im Elite-Internat Eton – und die Rivalität scheint noch immer nachzuwirken. Erst vor Kurzem war ein aktuelles Regierungsdokument an die Öffentlichkeit gelangt, in dem Johnson seinen Vor-Vorgänger als „mädchenhaften Streber“ bezeichnet.
… über das Brexit-Geschacher
Die aktuelle Ungewissheit beunruhige Cameron, sagte er im „Times“-Interview. Um die Blockade zu lösen, könne ein zweites Referendum helfen, so der frühere Premier. „Ich glaube, man kann es nicht ausschließen, weil wir in der Klemme stecken“, sagte er der Zeitung. Auch mehr als drei Jahre nach seinem Rücktritt vergehe kein Tag, an dem er nicht über die verlorene Volksabstimmung nachdenke. „Ich mache mir große Sorgen darüber, was als nächstes passieren wird“, sagte er der „Times“.
Gleichzeitig kritisierte Cameron das Vorgehen von Johnson: Er unterstütze weder die von Johnson auferlegte Zwangspause des Parlaments (ein „durchtriebenes Handeln“, so Cameron) noch den Fraktions-Rauswurf von 21 Tory-Abgeordneten, die gegen die Regierung gestimmt hatten. Beides sei „nach hinten losgegangen“. Er habe „beides nicht unterstützt“. Auch einen EU-Austritt ohne Abkommen, wie von Johnson angedroht, halte er für „keine gute Idee“.
Quellen: „Süddeutsche Zeitung“, Tagesschau, mit Material der Nachrichtenagentur DPA
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