Unwetterkatastrophe: Zahl der Toten steigt auf mehr als 90 – weitere Häuser stürzen ein

Nach der Unwetterkatastrophe gelten mehr als 1300 Personen als vermisst, mehr als 90 starben. In einer Einrichtung für Menschen mit Behinderungen bargen Rettungskräfte neun Leichen. Kanzlerin Merkel äußert sich bei ihrem USA-Besuch.

Die Bilanz der Unwetterkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz fällt immer dramatischer aus: Bis Freitagvormittag zählten die Behörden mindestens 93 Todesopfer und befürchten, dass die Zahl weiterhin steigt. Zahlreiche Menschen galten zudem noch als vermisst, was aber wohl auch mit den unterbrochenen Strom- und Telekommunikationsverbindungen zusammenhing. Mehrere Kreise in der Eifel riefen Katastrophenalarm aus. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) stellte Hilfen des Bundes in Aussicht. 

Im besonders schlimm heimgesuchten Kreis Bad Neuenahr-Ahrweiler im nördlichen Rheinland-Pfalz stieg die Zahl der Todesopfer am Freitagmorgen auf 50. „Die Befürchtung ist, dass es noch mehr werden“, sagte ein Sprecher des Polizeipräsidiums Koblenz.

Unter den Hochwassertoten in Rheinland-Pfalz sind nach einem Bericht der „Bild“-Zeitung auch zwölf Bewohner einer Behinderteneinrichtung in Sinzig. Der Geschäftsführer des Vereins Lebenshilfe, Stefan Möller, sagte dem Blatt am Freitag, das Gebäude hätte auf Bitten der Feuerwehr eigentlich evakuiert werden sollen, eine Nachtwache sei im Nachbarhaus gewesen. „Doch als der Mitarbeiter rüber ist, kam die Flutwelle – er kam nicht mehr raus und konnte keine Hilfe leisten“, sagte Möller. „Das ist fürchterlich – unsere Mitarbeiter sind traumatisiert, helfen aber noch, so gut sie können.“

Das Ahrtal galt als von der Außenwelt abgeschnitten. Die Gegend sei über keine Zufahrtsstraße mehr zu erreichen, teilte die Polizei mit. Die Zahl der als vermisst geltenden Menschen in Bad Neuenahr-Ahrweiler wurde von der Kreisverwaltung am Donnerstagabend mit rund 1300 angegeben. Die hohe Zahl hing aber offenbar damit zusammen, dass viele Menschen telefonisch nicht erreichbar waren. In Rheinland-Pfalz gehen die Behörden von mehr als 50 Unwettertoten aus.

Schlimm heimgesucht wurde auch der Kreis Euskirchen in Nordrhein-Westfalen. Dort kamen nach Angaben der Polizei vom Donnerstagabend mindestens 20 Menschen ums Leben. Insgesamt lag die Zahl der Todesopfer in NRW nach Angaben von Freitagvormittag bei mindestens 43. Das Landesinnenministerium in Düsseldorf erklärte jedoch, diese Zahl sei aber „dynamisch“ und könne sich jederzeit ändern.

In Erftstadt-Blessem ist eine Reihe von Häusern ganz oder teilweise eingestürzt. Das hat die Kölner Bezirksregierung am Freitagmorgen mitgeteilt. Ursache seien massive und schnell fortschreitende Unterspülungen der Häuser. Aus den Häusern kämen immer wieder Notrufe. Menschen könnten derzeit aber nur mit Booten vom Wasser aus gerettet werden. Dazu erschwere ein nicht abstellbarer Gasaustritt die Rettungsarbeiten. Mehrere Pflegeheime würden geräumt.

Schon jetzt mehr Tote als bei Jahrhunderthochwasser 2002

Es handelt sich um eine der größten Unwetterkatastrophen der Nachkriegszeit in Deutschland. Obwohl die Rettungsmaßnahmen noch voll im Gange waren, lag die Zahl der Toten bereits deutlich höher als beim sogenannten Jahrhunderthochwasser des Jahres 2002, bei dem in Deutschland 21 Menschen starben. Wegen der Katastrophe sollen die Flaggen an öffentlichen Gebäuden in Rheinland-Pfalz am Freitag auf Halbmast hängen.

Das ganze Ausmaß der Schäden war weiterhin nicht überschaubar. In Nordrhein-Westfalen lief am Donnerstagabend um kurz vor Mitternacht die Rurtalsperre über, wie der Wasserverband Eifel-Rur (WVER) mitteilte. Deshalb war mit weiteren Überschwemmungen am Unterlauf der Rur zu rechnen.

Hochwasser sucht auch Nachbarländer heim 

Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) begann mit der Anfertigung von Satellitenbildern der Überschwemmungsgebiete. Die Aufnahmen sollen den Behörden bei der Katastrophenbekämpfung helfen.

„Auf Anfrage der Länder Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen hat das BBK den Copernicus-Dienst für Katastrophen- und Krisenmanagement ausgelöst“, sagte Vizepräsident Thomas Herzog dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Copernicus ist das europäische Erdbeobachtungsprogramm. 

Von der Katastrophe heimgesucht wurden auch Teile Belgiens, Luxemburgs und der Niederlande. In Belgien kamen nach Angaben der Behörden mindestens neun Menschen ums Leben. In der niederländischen Provinz Limburg riefen die Behörde Tausende Menschen auf, ihre Wohnungen und Häuser zu verlassen. Sie waren durch den steigenden Pegel des Flusses Maas bedroht.

Hochwasser: Landesregierungen beraten über Hilfen 

Die Regierungen der Länder und des Bundes planen unterdessen die Hilfen für die betroffenen Regionen: Das nordrhein-westfälische Kabinett will am Morgen in einer Sondersitzung über die Lage und Hilfen für die Kommunen beraten. Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) sagte am Donnerstagabend in der ZDF-Sendung „Maybrit Illner“, es müssten Wege gefunden werden, sehr schnell wieder Straßen, Brücken und andere Infrastruktur in Gang zu setzen. Das Land werde helfen, nötig sei aber auch „eine große nationale Kraftanstrengung, damit schnell die schlimmsten Dinge beseitigt werden“.

Unwetterkatastrophe: Zahl der Toten steigt auf mehr als 90 – weitere Häuser stürzen ein

Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) will sich am Morgen in Trier ebenfalls über die Situation in ihrer Heimatstadt informieren. Wegen des starken Hochwassers im Mosel-Nebenfluss Kyll waren in Trier und Umgebung am Donnerstag Tausende Menschen in Sicherheit gebracht worden, auch ein Krankenhaus musste evakuiert werden. 

Die Schäden durch die Wassermassen sind in beiden Ländern immens. Das Land Rheinland-Pfalz stellte als kurzfristige Unterstützung 50 Millionen Euro bereit, um etwa Schäden an Straßen, Brücken und anderen Bauwerken zu beheben. Auch die Bundesregierung plant Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) zufolge ein Hilfsprogramm. 

Unwetterkatastrophe: Zahl der Toten steigt auf mehr als 90 – weitere Häuser stürzen ein

Merkel äußert sich in Washington: Bund soll helfen

Kanzlerin Merkel sagte während eines Besuchs in Washington zur Lage in den Überschwemmungsgebieten: Wo der Bund helfen könne, „werden wir das tun“. Sie zeigte sich geschockt von dem Desaster: „Das Leid der Betroffenen geht mir sehr nahe.“ Merkel richtete den Hinterbliebenen der Opfer ihr Beileid und den Einsatzkräften ihren Dank aus. „Ich fürchte, das ganze Ausmaß der Tragödie werden wir erst in den nächsten Tagen sehen“, fügte sie hinzu.

US-Präsident Joe Biden sprach bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Merkel Deutschland seine „aufrichtige Anteilnahme“ aus. Er sprach von einer „Tragödie“ und betonte: „Unsere Herzen sind bei den Familien, die geliebte Menschen verloren haben.“

Die Aufräum- und Bergungsarbeiten nach der Hochwasserkatastrophe im Westen von Deutschland gehen heute weiter.  

dpa / afp / reb

Posts aus derselben Kategorie: