//Experteninterview: Die Macht der Rache

Herr Haller, haben auch Sie gelegentlich Rachegedanken?
Auch ich bin manchmal auf Rache aus. Aber eher im Kleinen. Wenn ein Taxifahrer unfreundlich zu mir gewesen ist, gebe ich ihm schon mal nur ein kleines Trinkgeld. Oder gar keines. Das ist ebenfalls eine Form der Rache. Schwere Rachefantasien habe ich nie. Ich bin sehr friedfertig.

Auf welche anderen Arten rächen sich Menschen?
Das reicht von Lieblosigkeiten, Gesprächsverweigerung und Beziehungsabbruch bis hin zu Verleumdungen, Hasspostings und Mobbing. Von der Zerstörung des Eigentums bis zu schwersten körperlichen Angriffen. Im schlimmsten Fall kommt es zur Tötung. Man kann die ganze Palette der Aggression, vom verbalen Angriff bis hin zu großen Verbrechen, Amokläufen und Kriegen, in vielen Fällen auf Rache zurückführen.

Marianne Bachmeier erschoss im Gericht den mutmaßlichen Mörder ihrer Tochter

stern/Robert Lebeck

Eines der bekanntesten Beispiele für tödliche Vergeltung ist bis heute der Fall Marianne Bachmeier. Sie erschoss Anfang der 80er Jahre in Lübeck im Gerichtssaal den mutmaßlichen Mörder ihrer siebenjährigen Tochter Anna, einen einschlägig vorbestraften Sexualstraftäter.
Die Selbstjustiz dieser Frau ist ein klassisches Beispiel dafür, wie jemand der staatlichen Gerechtigkeit misstraut und seine eigenen Gerechtigkeitsmaßstäbe über alles setzt – obwohl Bachmeier wusste, dass sie dafür einen hohen Preis würde zahlen müssen. Der entscheidende Grund für diese Rachehandlung wird aber der immense Schmerz einer Mutter gewesen sein.

Man sagt Frauen gern nach, dass sie rachsüchtiger seien als Männer. Steckt in diesem Klischee ein Funken Wahrheit?
Die Neigung dürfte bei beiden Geschlechtern gleich ausgeprägt sein. Aber der weibliche Gegenschlag erfolgt häufig anders als der männliche, der meist viel rascher, primitiver und unkontrollierter ist. Ohne Cool-off. Die weibliche Rache kommt oftmals verzögert und ist durchdachter.

Was ist Rache? Eine psychologische Kraft? Ein Gefühl?
Rache ist komplex, mehr als nur ein Gefühl, mehr als nur ein Gedanke. Es ist ein vielschichtiges Zusammenspiel von emotionalen und rationalen Elementen, eher eine soziale Interaktion. Der Sozialpsychologe Mario Gollwitzer definiert sie als „eine gezielte Schädigung“ von anderen, „als Reaktion auf eine zuvor erlittene Ungerechtigkeit“.

Eine zutiefst menschliche Reaktion …
Das Bedürfnis gehört zu unserer Urausstattung, es ist tief verankert im menschlichen Geist. Evolutionsbiologen begründen das damit, dass erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit rechtsstaatliche Institutionen die Aufgabe übernommen haben, für Gerechtigkeit zu sorgen. Zuvor konnten sich die Menschen jahrtausendelang nicht auf Polizei und Gerichte verlassen. Sie mussten selbst dafür sorgen, dass Unrecht gesühnt wird.

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Zur Person

Als Kind wollte Reinhard Haller Priester werden, später Anwalt – tatsächlich wurde er Facharzt für Psychiatrie, Neurologie und Psychotherapie. Mehr als 30 Jahre war er Chefarzt am Krankenhaus Maria Ebene in Vorarlberg.

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