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Der Weg in den Himmel ist kurz auf Sylt. Man muss bloß die Holztreppe vom Westerländer Strand hinaufsteigen, 26 Höhenmeter, und dann ist man ganz oben angekommen am Firmament. Jedenfalls wenn die Wolken tief und schwer hängen. Himmelsleiter heißt die Treppe. Eine kleine Übertreibung, aber gut, das ist Sylt, und an klaren Tagen bietet sich ein wirklich grandioser Ausblick über die Insel. Im Süden zeichnet sich Rantum ab, das schmale Dorf in den Dünen, im Norden liegt der weiße Sand von Westerland – mit hingetupften Spaziergängern und Strandkörben. Und wenn man mit Ekkehard Klatt unterwegs ist, meint man sogar, Dinge zu sehen, die längst verschwunden sind.
„Schauen Sie“, ruft Klatt in den rauen Wind hinein, „dort soll Eidum gestanden haben, die Kirche mit dem Glockenturm und daneben die Windmühle.“ Klatts Arm weist Richtung Westen. Zu sehen ist dort nur Wasser. Die Nordsee, wie sie Welle um Welle an den Strand schiebt. Sonst nichts. Aber das wird sich schnell ändern.
Das Rätsel um Eidum
Ekkehard Klatt, 67 Jahre alt, zotteliges graues Haar, ist ein fabelhafter Landschaftsmaler. Er malt mit Worten. Wenige Sätze genügen ihm, um märchenhafte Kulissen zu entwerfen. Da ist Eidum, dieses sagenumwobene Dorf, das die Nordsee sich einverleibt haben soll in der Allerheiligenflut im Jahr 1436. Der Meeresgott Ekke soll den Orkan entfacht haben – aus Wut, weil ihm die schöne Inge von Rantum einen Korb gegeben hatte.
Klatt liebt solche Geschichten. Bloß: Er glaubt sie nicht. Er ist promovierter Geologe, ein Mann, der auf Bohrungen und chemische Analysen vertraut. Klatt hat ausführlich zur Entstehung der Insel geforscht. Seit 1964 lebt er auf Sylt, und sein gesamtes Wissenschaftlerleben lang hat ihn das Rätsel um Eidum beschäftigt.
Und das aus wichtigem Grund: Die Geschichte Westerlands, des touristischen Zentrums von Sylt, gründet sich auf dem Mythos vom versunkenen Eidum. Die Überlebenden der Sturmflut, so lautet die gängige These, seien landeinwärts geflüchtet und hätten Westerland zu ihrer neuen Heimat gemacht.
Ekkehard Klatt hat nicht nur Spaß am Rezitieren von Seemannsgarn, er liebt auch die Rolle des streitlustigen, kratzbürstigen Forschers. Klatt hat eine ganz eigene Theorie zur Entstehung von Westerland aufgestellt – und zur Beweisführung bittet er zu einem kleinen Rundgang.
Inselspaziergang mit Ekkehard Klatt
Los geht es von der Aussichtsplattform der Himmelsleiter hinunter Richtung Südosten. Klatt taucht in einen kleinen Tannenwald ein, dann biegt er nach links ab, in den Kuurt-Blöken-Weg. Hier ist Inselgeschichte zu besichtigen: Rechts liegt sumpfiges Marschland, links die Geest, also Sandablagerungen aus früheren Eiszeiten. Westerland wurde auf diesem Geestrücken gegründet, wahrscheinlich im 15. Jahrhundert. Auch Eidum thronte einst auf eiszeitlichem Schutt, darauf deutet eine Karte von 1585 des Niederländers Lucas Janszoon Waghenaer hin.
Aber dass Eidum so weit vor Westerland gelegen haben soll, Wind und Wellen schutzlos ausgeliefert – Ekkehard Klatt will das nicht glauben. „Eidum war sicherlich kein Dorf von Wahnsinnigen, die einen Außenposten in der Nordsee gründen wollten“, sagt er, „Eidum und das heutige Westerland lagen viel dichter beieinander, als landläufig angenommen wird.“
Mit seiner Theorie steht Klatt ziemlich allein da, zumindest auf Sylt. Hier wirken nämlich noch immer die Geschichten von Christian Peter Hansen nach. Hansen, geboren 1803, war zunächst Schulmeister in Keitum, entwickelte sich aber bald zu einem Inselchronisten. Er schrieb alles auf, was ihm zugetragen wurde. Dokumente gab es kaum, deshalb ist heute schwer zu beurteilen, was in seinen Schriften historisch verbürgt und was einfach nur Döntjes sind, schöne Anekdoten.
Da ist zum Beispiel Hansens Behauptung, dass die Nordsee mehrfach den Blick auf das alte Eidum freigegeben haben soll. Bei extremem Niedrigwasser seien Brunnen und Fußabdrücke gesichtet worden.
Klatt winkt ab. „Wenn man drei Grog trinkt, hört man bestimmt auch noch die Eidumer Kirchenglocken läuten“, schnaubt er. In vielen Fachartikeln über Eidum werden Hansens Beschreibungen bis heute aufgegriffen – was Klatt ärgert.
Er vertraut seinem Kollegen Karl Gripp, ehemals Direktor des Geologischen Instituts der Universität Kiel. Gripp ging der Geschichte von der wunderbaren Wiedererscheinung Eidums auf den Grund und ließ die Küste vor Westerland abtauchen. Seine Leute fanden nichts, keine einzige Spur vom verschollenen Dorf.
Roman-Schreiber Christian Peter Hansen
Klatts Spaziergang durch die Sylter Geschichte führt weiter Richtung Osten, zur Tinnum-Burg. Sie ist ein wichtiges Denkmal, eines der wenigen verbliebenen Zeugnisse aus der Frühzeit Sylts. Von der Burg, die um Christi Geburt erbaut wurde, ist heute nur noch ein etwa acht Meter hoher Ringwall zu sehen. Am Wall liegt ein Marschpriel – für Klatt ein Indiz, dass die Tinnum-Burg mehr war als ein Bollwerk, in dem die Menschen Schutz suchten, wenn der Feind nahte. Klatt und einige auf Küstenforschung spezialisierte Historiker nehmen an, dass die Rinne schiffbar war.
„Wahrscheinlich hat hier die Hafenanlage gestanden, die die Wikinger genutzt haben“, sagt Klatt. Auch einen Marktplatz habe es gegeben, ungefähr dort, wo heute das Tinnumer Gewerbegebiet liegt.
Man könnte jetzt noch weitergehen bis zur Dorfkirche St. Niels in Westerland, in der angeschwemmte Steine der untergegangenen Eidumer Kirche verbaut sein sollen. Klatt kürzt den Weg aber ab. Er muss noch schnell nach Hause, um einige Bücher zu holen. Auf seinem Wohnzimmertisch liegt ein vergilbtes Bändchen aus dem Jahr 1859. „Der Fremdenführer auf der Insel Sylt. Wegweiser für Badende in Westerland“, verfasst von Christian Peter Hansen.
„Also, schreiben konnte Hansen ja, und Fantasie hatte er auch“, sagt Klatt. „Für mich ist das der beste Roman, den es über Eidum gibt.“
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