Netflix, Disney und Co.: Werbung, Fragmentierung und Einheitsbrei: Warum die goldene Zeit des Streamings dieses Jahr zu Ende ging

Jede Woche eine aufregende neue Serie, alles bei einem Anbieter: Als Netflix nach Deutschland kam, schien Streaming noch die ideale Zukunft des Fernsehens. Doch seitdem ist viel passiert. Und die fetten Jahre dürften mit 2022 endgültig zu Ende gehen.

Wenn eine neue Serie bei Netflix angekündigt wurde, dann war das ein Grund zur Aufregung. Egal, ob es um die skrupellosen Machtkämpfe in Washington ging oder die skurrilen Insassen eines Frauenknastes: Mit den Eigenproduktionen des Streaming-Pioniers machte man nichts falsch. Und es war nur der Anfang. Der Wettkampf um die Nutzer sorgte für ein gigantisches Aufblühen des angestaubten Formats der TV-Serie. Doch den Höhepunkt des Serien-Booms haben wir wohl schon hinter uns.

Das zeigen die Entwicklungen auf dem Streaming-Markt in diesem Jahr. Nach Jahren des Wachstums kamen die ersten Streamingdienste 2022 an eine Grenze: Zum ersten Mal musste Netflix verkünden, dass man weniger Nutzer neu gewonnen als verloren hatte. Gleichzeitig wird es immer schwerer, neue Serien-Projekte umzusetzen und dann auch noch ein Publikum zu finden. Und: Immer mehr Anbieter setzen auf Werbung. Alles zusammengenommen dürfte das Ende des Serien-Hochs besiegeln.

Streaming brachte den Serien-Boom

Auch wenn die Nutzer natürlich wunderbare Zeiten mit den vielen neuen Inhalten hatten: Den größten Effekt hatte Netflix‘ Siegeszug in Hollywood und mit Verzögerung für die Serien-Produktion rund um den Globus. Als Netflix sich aufmachte, den TV-Markt aufzumischen, hatte der Konzern vor allem ein Ziel: Möglichst gute und abwechslungsreiche Inhalte zu schaffen und damit immer neue Zuschauer zu begeistern. Der Plan ging auf. Ob „Orange is the new black“, „House of Cards“ oder „Stranger Things“: Die großen Hits des Streaming-Pioniers lockten unzählige Zuschauer an.

Der Erfolg sorgte für einen Boom in der Filmbranche. Nach dem Erfolg von Netflix begannen auch die Konkurrenten, ihre Streaming-Angebote immer weiter auszubauen – und setzten ebenfalls auf Eigenproduktionen, um sich von der Konkurrenz abzusetzen. Für die Serienmacher bedeutete das Goldgräber-Stimmung: Keine Idee war zu abwegig, kaum ein Budget zu groß. Und: Nachdem die Hollywood-Elite sich lange Zeit sträubte, ihr Gesicht in TV-Produktionen zu zeigen, waren plötzlich selbst die A-Lister bereit, sich für tolle Serien-Ideen verpflichten zu lassen.

Viel Platz für Nischen

Der Effekt war in der Branche spürbar. Besonders vielversprechende Serien lösten zwischen den Streamingdiensten Bieterschlachten aus, es wurden so viele Serien gedreht, dass Script-Schreiber und Showrunner teils händeringend gesucht werden mussten. Selbst wenig erfahrene Serienmacher hatten plötzlich die Chance, sich auf der großen Bühne zu beweisen. Und selbst kleine und nischige Ideen umsetzen zu können.

Für die Branche und auch das Publikum war die Situation großartig. Während sich Serien im klassischen TV immer im Kampf um die Sendeplätze beweisen mussten, war der Platz im Internet unendlich. Das veränderte auch die Serien: Statt immer dieselben Klischee-Figuren schreiben zu müssen, um ein großes Publikum zu erreichen, konnten plötzlich auch ungewohnte Geschichten erzählt werden. Ob der transsexuelle Vater in „Transparent“, die beiden verlassenen Rentnerinnen in „Grace and Frankie“ oder der abgewrackte Ex-Star in Gestalt eines Pferdes im gleichnamigen „Bojack Horseman“: Figuren, die für Mainstream-TV zu verschroben waren, wurden nicht nur als Serie durchgewunken, sondern von ihren Zuschauern begeistert gefeiert.

"The Last of Us" im Trailer

Ende in Sicht

Dass sich das nicht dauerhaft halten könnte, zeichnete sich bereits vor einigen Jahren ab. Mit der zunehmenden Konkurrenz und den immer neuen, zusätzlichen Diensten war auch der Erfolgsdruck bei Netflix und Co. deutlich gestiegen. Das hatte Folgen. Waren bei Netflix zu Beginn drei Staffeln für jede neue Serie geradezu garantiert, begann der Konzern, immer öfter Programme auch wieder abzusetzen, wenn sie nicht schnell genug ein Publikum fanden. Selbst Serien mit einer großen Fan-Basis wie die Zombie-Komödie „Santa Clarita Diet“ endeten plötzlich unerwartet auf der Streichliste. Und ließen die enttäuschten Fans mit einem Cliffhanger zurück.

Gleichzeitig nahm bei Netflix die Qualität spürbar ab. Auf der Jagd nach dem einen, riesigen Überraschungshit wie „Squid Game“ hatte der Konzern die Nutzer mit zu viel Mittelmaß genervt. Auch das sogenannte Binge-Watching, bei dem eine Serie auf einen Schlag durchgeschaut wird, erwies sich vom Zuschauer-Hype zunehmend als Falle. Weil viele Zuschauer nicht die gleichen Serien schauten, blieb der Lagerfeuer-Effekt aus. Und selbst wenn man denselben Hit konsumierte, wurden Gespräche darüber oft schwierig – schließlich war man selten auf demselben Stand. Der große Hype blieb so oft aus.

Doch selbst die Lagerfeuer-Serien begannen in den letzten Jahren, an Zug zu verlieren. Nach dem großen Hype um „Game of Thrones“ wollte der Heimatsender HBO mit „Westworld“ einen genauso großen Nachfolger schaffen. Doch die Serie war den Zuschauern wohl zu komplex. Mit jeder Staffel sanken – wohl nicht zuletzt durch die zahlreichen Alternativen – die Zuschauerzahlen. Vor einer Woche kam dann der Paukenschlag: Nicht nur wurde die Serie vor dem Start der angekündigten finalen Staffel abgesetzt. Die gesamte Serie wird auch aus dem Streaming-Angebot HBO Max entfernt. Die Zeit der gewagten Experimente und des endlosen Speichers im Internet ist vorbei.

Mit der Werbung steigt der Druck

Noch eine größere Auswirkung droht aber mit einer Umstellung, die immer mehr Streamingdienste nun anstoßen. Weil der Markt gesättigt ist und kaum noch neue Kunden zum Vollpreis anzulocken sind, bieten immer mehr der Dienste ein günstigeres Abo an, das mit Werbung finanziert wird. In Deutschland hatte Netflix etwa Anfang November ein neues Einstiegs-Abo eingeführt, das nur fünf Euro monatlich kostet, dafür aber gelegentlich Werbung zeigt. Amazon hatte mit Freevee ein komplett durch Werbung finanziertes Angebot gestartet, Disney hat in den USA ebenfalls ein solches Modell vorgestellt. Das Modell dürfte sich durchsetzen, sagte jüngst eine Studie bevor: Sie erwartet, dass bis 2030 sämtliche Streamingdienste auch auf Werbung setzen werden

Die Werbung sollte die bestehenden Bezahl-Kunden nicht ärgern, würde man zunächst vermuten. Schließlich kann man sie einfach abschalten, indem man eines der teureren Abos bucht. Doch das ist zu kurz gedacht. Denn: Sie verändert die Zielsetzung der Serien-Produktionen. 

Hat man als Ziel, möglichst viele Abonnenten zu überzeugen und danach zu halten, ist es letztlich nicht so wichtig, wie viele Zuschauer eine einzelne Serie hat. Viel wichtiger ist es, wie lange die Abonnenten insgesamt auf der Plattform bleiben. Solange sie immer neue, für sie spannende Inhalte finden, bleibt also viel Platz für Nischen, die ein kleines, aber engagiertes Publikum ansprechen. Bei werbefinanzierten Angeboten ist das weniger der Fall. Hier zählt, den Werbekunden eine möglichst große Anzahl an Abrufen ihrer Spots versprechen zu können. Und damit hohe Abrufzahlen bei einzelnen Inhalten zu garantieren. 

Masse statt Nische

Genau das scheint Netflix bisher nicht gelungen zu sein: Laut einem aktuellen Bericht bleiben die Werbeabrufe bisher unter den Zielmarken: Netflix gelingt es demnach nur, 80 Prozent der zugesagten Abrufe auch wirklich zu liefern. Für den Konzern ist das fast ärgerlicher als für die Werbekunden: Der Konzern zahlt die Werbeeinnahmen nach Informationen von „Digiday“ gerade wieder zurück. Die Folgen könnten sogar noch länger spürbar sein. Will er in der Zukunft neue Verträge abschließen, werden die Werbekunden die Versprechen mit Skepsis betrachten. Und entsprechend weniger zu zahlen bereit sein. 

Für die Streaming-Anbieter bedeutet das: Man muss die Abrufzahlen für einzelne Programme nach oben jagen. Wie auch etwa bei Fußball-Spielen sind eben nur die Inhalte besonders wertvoll, die hohe Zuschauerzahlen geradezu garantieren. Für Nischen lässt das aber wenig Platz. Wie im klassischen TV-Markt werden Netflix und Co. eher auf Massenunterhaltung setzen müssen. Die Zeit der wagemutigen, auch abwegigen Experimente ist damit wohl endgültig vorbei. 

Quellen: Digiday, Techcrunch

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