Inhaltsverzeichnis
Die deutsche Studierende steht in einem großzügigen Apartment in Washington D.C. vor dem Spiegel und befestigt ihre hohen Strümpfe am Halter. Sie atmet langsam aus und streicht sich über die enge Korsage. Ihren Hals ziert ein schwarzer Choker. Dann klopft es an der Tür und sie trifft ihren Sugar Daddy zum ersten Mal persönlich.
NEON sprach mit der 22-jährigen Anita* und dem Sexualpsychologen Christoph Joseph Ahlers darüber, warum sich immer mehr junge Frauen einen wohlhabenden Mann suchen und wo die Grenze zwischen Sugaring und Prostitution verläuft.
Anita studiert Lehramt in Nordrhein-Westfalen und beobachtet das Online-Portal „Seeking Arrangement“ bereits seit einigen Jahren. Die Plattform verzeichnet derzeit 20 Millionen aktive User weltweit. Neu sei das Phänomen allerdings nicht, so der klinische Sexualpsychologe Ahlers. In seinem Buch „Himmel auf Erden und Hölle im Kopf – Was Sexualität für uns bedeutet“ durchleuchtet er unter anderem, wie sich die Beziehung zwischen Mann und Frau im digitalen Zeitalter verändert.
Im Gespräch mit NEON erklärt er: „Früher waren es vor allem Frauen aus dem asiatischen und südamerikanischen Raum, die sich westlichen, wohlhabenden Männern gegen Geld als Partnerin angeboten haben. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kamen die Osteuropäerinnen und heute sind es auch mitteleuropäische Frauen, die diese Art von sexueller Dienstleistung anbieten: Sie vermarkten ihre Jugendlichkeit und ihre sexuelle Attraktivität für Geld und ein Leben im Luxus.“ Kurz gesagt: Sie werden zu sogenannten Sugar Babes.
„100 Euro für ein Dessous-Bild“
Durch die Digitalisierung verändere sich die Art und Weise, wie der Vertrag zwischen Mann und Frau zustande kommt. Anita hat auf dem Online-Portal zunächst beobachtet, wie unterschiedlich Wünsche und Preisangebote der Männer sind: „Es gibt Männer, die zahlen 100 Euro für ein Dessous-Bild. Andere wollen echte Beziehungen oder sogar Ehen erwerben.“
Nach langem Überlegen nahm sie zwei Angebote unterschiedlicher Sugar Daddys an und unternahm jeweils eine USA-Reise mit ihnen. „Ich wollte schon immer Amerika entdecken, konnte mir einen Road-Trip aber schlichtweg nicht leisten. Davon abgesehen war ich auch einfach neugierig“, erklärt Anita ihre Intention und reiste deshalb nach New Orleans.
Ihr Gönner war 28 Jahre alt, alleinstehender Amerikaner und rein äußerlich kein unattraktiver Mann. „Er war nicht der typische Sugar-Daddy, im Gegenteil – er wollte gar keinen Sex, sondern ein freundschaftliches Verhältnis“, so Anita. Vor der Reise telefonierten sie mehrmals, er gab ihr die Nummer seines Vaters. „Für den Notfall“, hieß es.
Die erste Sugar-Daddy-Reise brach sie ab
Was genau damit gemeint war, wurde Anita erst während der Reise an der Westküste wirklich klar: Der junge Mann hatte eine soziale Phobie. Gemeinsame Unternehmungen in der Öffentlichkeit wurden zu Anitas Albtraum: Hibbeliges Verhalten in der Einkaufsstraße, nervöses Hin-und Hergerutsche auf dem Stuhl im Restaurant und seine ständig panischen Blicke wurden ihr zu viel. „Er war nett und ich wollte ihn auch gar nicht verurteilen, aber die Situation wurde für mich zur dauerhaften Anspannung“, gesteht Anita. Sie suchte das Gespräch und brach die gemeinsame Reise ab.
Aber so können doch nicht alle Männer sein, oder? Sie wagte den zweiten Versuch und plante zum Jahreswechsel eine weitere USA-Reise. Dieses Mal war der Sugar Daddy 45 Jahre alt, verheiratet und wollte Sex. „Wir haben vorher am Telefon über seine Vorlieben gesprochen. Mir war wichtig, dass er meine Grenzen kannte und wir darüber hinaus auch ansatzweise gemeinsame Interessen hatten“, erklärt Anita. Sie wollte außerdem wissen, warum er seine Frau betrügt. „Ich habe da keine Gewissensbisse“, stellt sie klar. Privat würde sie nie etwas mit einem vergebenen Mann anfangen, aber beim Sugaring sei es anders: „Er muss damit umgehen können, nicht ich.“ Der Mann habe seit zehn Jahren nicht mehr mit seiner Frau geschlafen.
Ist fehlender Sex der Grund, warum reiche Herren sich mit jüngeren Frauen treffen? Nein, der Antrieb sitzt oft tiefer, weiß der Sexualpsychologe: „Für die Männer geht es in erster Linie um eine asymmetrische Beziehung“, erklärt er. Die Beteiligten begegnen sich also nicht auf Augenhöhe. „Die Männer haben keine Lust und oft auch keine Zeit, um eine Frau zu werben, eine Partnerschaft zu führen und ‚um Sex zu betteln‘, wie es viele erleben und ausdrücken. Das ist ihnen alles zu anstrengend“.
Mit einer bezahlten „Partnerin“ wollen sie die alltäglichen Beziehungsprobleme umgehen. Es seien allerdings nicht nur die Männer, die kein Interesse an einer festen Bindung haben. Nicht selten haben auch die Frauen einfach keine Lust oder sogar Angst vor einer festen Bindung. „Eine Hand wäscht die andere“, so der Sexualpsychologe.
Wenn Sugar Daddys wollen, aber nicht können
Anita überlegt, ob ihr Sugar Daddy ins Bild passt: „Er war schlank, sportlich und fuhr einen Audi.“ Während der gemeinsamen Zeit sei er sehr nett und aufmerksam gewesen. Und wie war der Sex? „Also gekommen bin ich nicht“, lautet die ehrliche Antwort der jungen Frau. „Aber ich habe mich immer wohlgefühlt. Einen richtigen Orgasmus bekomme ich beim Sex eher selten“, ergänzt sie. Man könnte meinen, dass das dem Sugar Daddy egal sein könnte, ist es aber nicht.
„Die wenigen Sugar Daddys, die sich in meine Praxis verirrt haben, waren alle um die 60 Jahre alt und sagten übereinstimmend, dass ohne Viagra der ganze Deal für sie unmöglich wäre“, erklärt Ahlers. Seit über 20 Jahren untersucht, berät und behandelt er Paare und Einzelpersonen unter anderem in seiner Praxis in Berlin Tiergarten. „Eine der Hauptsorgen war, wie sie ihre sexuelle Leistung steigern könnten, und woran man erkenne, ob eine Frau einen Orgasmus vorspielt. An diesen Fragen wird erkennbar, wie sehr es auch um die Kompensation von altersbedingten Selbstwertproblemen geht“, so Ahlers.
Prostitution oder Sugaring: Wo ist der Unterschied?
Ob ihr Sugar Daddy etwas kompensieren wollte, kann Anita nicht genau sagen: „Er hat gezahlt. Das war die Hauptsache.“ Apropos Zahlen: Anita hat für die zweiwöchige Reise inklusive Sex 3000 Euro bekommen, Flug und Hotel hat er ihr außerdem noch gezahlt. Aber – ist das nicht Prostitution? „Der Grat ist tatsächlich sehr schmal“, gibt sie zu. „Ich sehe den Unterschied allerdings darin, dass ich das Geld für etwas Spezifisches, wie meine Reisekosten, bekomme. Bei Prostitution geht es um den reinen Sex.“ Außerdem bestimme sie ihre eigenen Regeln. Dazu gehört zum Bespiel, dass die Männer nie über Nacht bleiben dürfen. Darüber hinaus suche sie sich die Sugar Daddys aktiv aus, eine Prostituierte tue das nicht.
Dem kann der Experte nicht zustimmen: „Auch im Puff wollen viele Männer reden oder laden Prostituierte zu sozialen Unternehmungen ein. Von krimineller Zuhälterei abgesehen, kann auch eine Prostituierte sich ihre Freier aussuchen und lässt sie niemals übernachten.“ Ahlers spricht beim Sugaring auch von Zivil-Prostitution, weil es von außen betrachtet eher einer normalen Beziehung ähneln würde. Er stellt aber klar: „Am Ende ist es Sex gegen Geld. Wenn der Mann die junge Frau finanziell nicht mehr aushalten kann oder sie keinen Sex mehr mit ihm will, trennen sich ihre Wege.“ Alles andere sei Augenwischerei. Anita sagt dennoch: „Ich würde des jederzeit wieder tun.“
*Name von der Redaktion geändert
Posts aus derselben Kategorie:
- Australien: Von 200 Haien umgeben – Taucherin traut ihren Augen kaum
- Afghanistan: Zweites Mal seit Machtübernahme: Taliban lassen Mann öffentlich hinrichten
- «Gender Pay Gap»: Einkommensnachteil für Frauen wird nur langsam kleiner
- Frauen in Moerser Bar niedergestochen – ein Opfer stirbt
- Studie: Wachstum der 100 deutschen Topkonzerne schwächt sich ab