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Vor ein paar Monaten schrieb ich einen Artikel über meine Angst vor Tauben. (Zum Nachlesen: Tauben sind ekelhaft – und ja, ich weiß, sie können nichts dafür!). Ich wollte, ich musste das einfach mal loswerden. Kaum war der Text veröffentlicht, füllte sich mein Postfach. Leser schrieben mir oder kommentierten den Text auf Facebook. Viele Leser. Und jeder hatte seine ganz eigene Meinung zu Tauben. Manche hatten Verständnis, andere konnten meine Angst so gar nicht nachvollziehen.
Die vielleicht bestimmteste E-Mail schrieb Susanne Gentzsch. Sie forderte mich auf, meine persönlichen Animositäten lieber zurückzuhalten. In leicht empörtem Tonfall. Doch dann endete ihre Nachricht versöhnlich: „Wir laden Sie herzlich ein, unseren Taubenschlag für gehandicapte Stadttauben in Bergedorf zu besuchen. Dort können sie die Schönheit gesunder Stadttauben (durch ein Gitter geschützt) bewundern.“
Ich weiß nicht so genau, was mich für einen Moment geritten hat. Aber ich nahm die Einladung an. Obwohl ich das gar nicht wollte. Nun hatte ich den Salat.
„Ich will da nicht hin!“
Als der Termin näher rückte, konnte ich es kaum noch erwarten. Kaum noch erwarten den Termin abzusagen, mich in mein Bett zu verkriechen und meine Angst Überhand gewinnen zu lassen. Freunde und Kollegen bekamen in Dauerschleife zu hören: „Was tu ich mir da eigentlich an?“, „Ich will da nicht hin!“ oder „Warum mach ich das nur?“ So richtig Mitleid hatte niemand – im Gegenteil. Alle fanden es eher witzig, dass ich die Einladung wirklich angenommen hatte. Alle, außer ich selbst. Herzliche Grüße an dieser Stelle auch an meine Kollegen für die Schadenfreude über mein selbst gewähltes Schicksal. Aber irgendwie sagte ich doch nicht ab. Ließ mir keine faule Ausrede einfallen. Wurde (zum Glück) nicht krank. Und ich musste auch keine spontane Sonderschicht im Büro übernehmen. Im Gegenteil. Es gab kein Zurück mehr.
Fest entschlossen, den Besuch bei den Tauben durchzuziehen, fuhr ich zu „Gandolfs Taubenfreunden“. Die Sonne schaute hin und wieder durch die Wolken, der erste Hauch von Frühling wehte durchs Hamburger Umland. (Was in Hamburg meist deutlich später geschieht als im Rest des Landes.) Auf dem kleinen Gelände führten mich Susanne Gentzsch und Annett Behrend, die sich als Tierschützerinnen bei Gandolfs Taubenfreunden engagieren, an Igel- und Eichhörnchen-Gattern vorbei. Dabei erzählten sie, wie sie zusammen mit ihrem Team verletzte und kranke Tauben einfangen, sie tierärztlich behandeln und pflegen lassen. Pro Jahr landen in dem Taubenschlag ca. 250 verletzte Vögel.
Dass Stadttauben ein hartes Schicksal haben, war mir schon vor dem Besuch bei den Taubenfreunden bewusst. Doch dass Stadttauben ein selbstgeschaffenes Problem des Menschen sind, wurde mir erst in dem Gespräch mit den Tierschützerinnen klar. Sie erzählen mir, dass viele Stadttauben früher einmal Haustauben waren, die in Schlägen von Taubenzüchtern lebten. Oder Brieftauben, die von Züchtern bei Wettkämpfen tausende Kilometer fliegen gelassen werden, auf dem Weg die Kraft verlieren, notlanden und fast verhungern, weil sie nie gelernt haben, sich Futter zu suchen. Die Tauben begeben sich in die Städte, wo Chance auf Nahrung durch Müll des Menschen besteht. Statt ihnen zu helfen werden sie auch dort mit Stacheln und Netzen vertrieben. Alles erfolglos, denn die Tauben nisten dort trotzdem und verletzten sich an Spikes oder hängen sich in Netzen auf. Mit jeder weiteren Info der Tierschützerinnen wuchs mein Mitleid.
„Wenn ich ganz ruhig bin, wird es schon gehen!“
In der Voliere, dem riesigen Vogelkäfig, sitzen einige gehandicapte Tauben. Manchen musste ein Fuß amputiert werden, weil sich dieser durch Verschnürungen entzündet hatte. Am Boden des Taubenschlags befanden sich Tiere, die wegen Flügelbrüchen oder des Verlustes von Schwanz- oder Rückenfedern nicht mehr fliegen können. Ein wirklich trauriger Anblick. Mit steigendem Mitleid für die Tiere stieg in mir der Mut auf, das Flattertier auch ohne schützendes Gitter zu betrachten. „Wenn ich ganz ruhig bin, wird es schon gehen“, sagte ich mir immer wieder beim Betreten der Voliere.
Und dann stand ich tatsächlich zwischen den Vögeln und konnte den Worten der beiden Frauen kaum noch folgen. Sobald irgendwo etwas flatterte, brach in mir sanfte Panik aus. Vermutlich starrte ich die Tiere an, als wären sie der Teufel. Ich weiß, dass das rational nur schwer zu erklären ist. Aber ich benötigte meine ganze Konzentration um sicherzustellen, dass mir ja keines der Tiere zu nahe kommt. Trotz meines Mitleids hatte ich immer noch sehr großen Respekt. Vor allem davor, dass sie jederzeit in meine Richtung fliegen konnten. Nicht noch einmal wollte ich die Füße einer Taube in meinem Gesicht spüren, wie damals auf dem Bahnhofsplatz. Fragen zu stellen oder zu beantworten war kaum noch möglich. Nach fünf Minuten hielt ich die Reizüberflutung nicht mehr aus. Einfach zu viel Geflatter. Ich musste raus.
Machen wir es kurz: mitten ins Gesicht!
Mit nach draußen begleitete uns eine weiß-braune Taube, die offenbar nicht mehr fliegen konnte. Ich war froh, dass mich wieder eine Wand von den anderen Vögeln trennte. Die Taube, deren Name ich vor lauter Aufregung vergessen hatte, machte es sich auf dem Arm von Annett Behrend gemütlich. Die rotgelockte Frau setzt sich seit zwei Jahren ehrenamtlich für die Tiere ein, in jedem ihrer Worte schwingt die Liebe zu den Tieren mit. Nach mehreren Angeboten das Tier anzufassen, um mich meiner Angst stellen zu können, überkam mich tatsächlich eine Art Drang, noch einmal über meinen eigenen Schatten zu springen.
Mit dem positiven Gefühl, bei dem Besuch schon so viel geschafft zu haben (Hey, ich war kurz zuvor in einem Taubenschlag, obwohl ich sonst einen riesigen Bogen um die Tiere mache – was kann jetzt noch schief gehen?), konnte mich nichts mehr aufhalten. Ich fragte also, ob ich die Taube mal anfassen darf. Streckte meinen Arm in Richtung Taube aus. War kurz davor, das Tür zu berühren.
Und dann, und nein, das ist kein Witz, begann das Tier zu flattern. Direkt in meine Richtung. Und flog mir mitten ins Gesicht. Welch Wunder, die Taube konnte also doch noch fliegen – zumindest für ein paar Meter. Zumindest bis auf meine Nase.
Und weg war mein Mut. Vor Schreck gab ich seltsame Laute von mir, mein Herz raste, ich versuchte mich wegzuducken.
Ein paar Minuten später sitze ich endlich wieder in meinem Auto. Habe kurz vor dem Abschied noch schnell ein Küken angefasst, um zumindest das geschafft zu haben. Und habe wirklich Respekt vor der Arbeit der Tierschützerinnen und Mitleid mit all den kranken Tieren, die sich durch unsere Städte quälen. Dennoch werden diese Vögel und ich keine Freunde mehr. Das beschloss ich spätestens in jenem Moment, als mir zum zweiten Mal in meinem Leben eine Taube ins Gesicht flog.
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