Das Vermächtnis

Die Geschichte, wie Henderson sie erzählt, beginnt mit einer Angst, von der er nicht wusste, dass sie noch in ihm war. Er hatte sie vergraben. Es mag zynisch klingen, aber im Vergraben von Ängsten hat Jerome Henderson Erfahrung.

Henderson sagt zum Beispiel nicht, dass er fast hingerichtet worden wäre. Dass ihn die Wärter schon in die Zelle neben dem Hinrichtungsraum verlegt hatten, sein letzter Abend, einmal noch schlafen, am nächsten Morgen die Giftspritze. Das oberste Gericht von Ohio wollte es so. Erst ein Bundesgericht entschied gegen die Hinrichtung, dort hatten drei Richter abgestimmt: zwei Stimmen für Hendersons Leben, eine für den Tod. Alles das erzählt Henderson nicht, man erfährt es aus dem Pressearchiv.

Henderson sagt es so: „Ich dachte, es wäre ein One-Way-Ticket. Stellt sich heraus, es war doch Roundtrip.“

In Freiheit würde Henderson bald in Rente gehen, er ist jetzt 63 Jahre alt. Er würde seinen Lebensabend planen, da draußen, wo er seit 1985 nicht mehr war. Lebensabend, schon dieses Wort: Was bedeutet es für ein Leben, das darin besteht, ums eigene Leben zu kämpfen?

„Vielleicht zum Laden an der Ecke gehen“, sagt Henderson, „und mir eine Milch kaufen.“ Vielleicht aber auch, endlich der Vergangenheit zu entkommen.

Als Henderson die E-Mail sah, saß er an dem Computer, den sie sich teilen. Sie, die Häftlinge im Todestrakt des Gefängnisses von Chillicothe, Ohio. „Ich hoffe, es geht Ihnen gut“, stand da. Wie amerikanische Mails immer anfangen. Und weiter: „Mein Name ist Nick, ich bin ein Künstler.“ Er habe sich mit Hendersons Fall beschäftigt, schrieb dieser Nick, er habe die Berufungsanträge gelesen, den ganzen Papierkrieg aus vier Jahrzehnten. Er fragte, ob Henderson mit ihm reden wolle.

Es war Nicks Nachname, der Henderson ansprang: Flessa. Er wusste, woher er ihn kannte.

Nick Flessa sagt, er habe es tun müssen.

Ein Wintertag in Los Angeles, mild genug, um vor dem Café draußen zu sitzen. Fast zu schön für ein solches Gespräch, zu lebendig, zu viele Hipster, junge Menschen, denen es darum geht, dem letzten Trend zu folgen. Los Angeles, die Stadt der Leichtigkeit. Mittendrin Flessa mit dem Schnauzbart im Gesicht und immer einem angedeuteten Lächeln.

Wie Henderson stammt er aus Ohio, aus derselben Stadt: Cincinnati. Kam zum Kunststudium nach Kalifornien und blieb. Heute, 34 Jahre alt, singt er in zwei Bands und macht Filme und Installationskunst. Er ist ein Kalifornier geworden, so wirkt es, der Projekte plant, Konzerte, der mitten im Leben steht. Und der jetzt manchmal spürt, wie es ihn überwältigt, worauf er sich da eingelassen hat. Was mit Henderson in sein Leben kam. Die alte Geschichte, die geschah, als er noch nicht mal auf der Welt war. Die Geschichte, über die seine Mutter kaum sprach, die sie in sich vergrub, von der er nur eine Ahnung hatte. Er würde sich dieser Geschichte stellen müssen, das wurde ihm nach dem Tod seiner Mutter klar. Er musste sich stellen, um loslassen zu können.

Keinesfalls, sagt er, wolle er

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